Offener Brief

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Bezugnehmend auf die Podiumsdiskussion vom 7. April im Rahmen der Veranstaltung „Würdigung des Ehrenamts in der Flüchtlingshilfe“ möchten wir klarstellen: Afghanistan ist kein sicheres Land. Abschiebungen nach Afghanistan widersprechen dem Grundsatz der Nichtzurückweisung der Genfer Flüchtlingskonvention und sie widersprechen der EU-Grundrechtecharta. Das hat zuletzt mit erschreckender Deutlichkeit der Taliban-Überfall vom 21. April auf Camp Shahin in der Provinz Balch mit über 300 Toten und Verletzten gezeigt. Nur wenige Kilometer vom Bundeswehrfeldlager Mazar-i-Sharif entfernt haben die Taliban-Kämpfer dort ein regelrechtes Massaker unter afghanischen Regierungssoldaten angerichtet. Den Berichten zufolge sind die zehn Täter in Militäruniformen und mit einem Krankenwagen in das Gelände eingedrungen und haben das Feuer auf teilweise unbewaffnete Soldaten in einer Moschee beim Freitagsgebet und in einem Essenssaal eröffnet. Erst nach einem dreistündigen Gefecht konnten sie getötet werden.
Der Angriff verstärkt das Gefühl der Verunsicherung im Land. Und er zeigt eindringlich, dass Menschen, die aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben werden, jederzeit und überall der Gewalt von Gruppen wie der Taliban ausgesetzt sein können. Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es 2016 in Afghanistan durch die Kämpfe fast 11.500 zivile Tote oder Verletzte. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat mehrfach betont, dass es in Afghanistan keine sicheren Regionen gibt. Die Vereinten Nationen erwarten für 2017 weitere 450.000 Binnenflüchtlinge in Afghanistan, zusätzlich zu den bereits in 2016 registrierten knapp 630.000 internen Flüchtlingen. Jede Abschiebung aus Deutschland erhöht deren Zahl.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
die von Ihnen in der Podiumsdiskussion vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. Sie sagen, Afghanistans Präsident Ashraf Gani habe Sie angefleht, weiter Menschen in sein Land abzuschieben – weil sonst das Bild entstehen würde, dort könne man nicht „unter akzeptablen Bedingungen leben“. Spätestens seit dem Anschlag von Camp Shahin weiß die ganze Welt, dass die afghanische Regierung abgesehen vom Präsidentenpalast und einigen wenigen Hochsicherheitszonen keinen Flecken des Landes zuverlässig kontrolliert. Auch Abschiebungen können an diesem Bild nichts ändern. Sie sagen, Iran und Pakistan schöben schließlich auch nach Afghanistan ab. Aber seit wann nimmt sich die Bundesregierung ein Vorbild am Iran – einem Land, das ansonsten nicht unbedingt als Richtschnur für unser Handeln dient und aus dem selbst viele Menschen vor staatlicher Verfolgung hierher flüchten?
Und schließlich: Sie können deutschen Familien nicht erklären, warum ihre Söhne und Töchter im Rahmen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ihr Leben riskieren sollen, wenn afghanische Bürger sich bei uns in Sicherheit bringen dürfen? Entschuldigen Sie, aber das ist schlimme Polemik. Ob Zivilisten in einem Gebiet leben müssen oder Soldaten dort hingeschickt werden – das ist etwas anderes und darf nicht in dieser Weise vermengt werden. Und wenn Bundeswehrsoldaten … im Rahmen ihrer Ausbildungsmission in Afghanistan sich außerhalb der Kaserne bewegen, dann tun sie das in Konvois gepanzerter Fahrzeuge. Zivilisten haben keinen solchen Schutz.
Afghanistan ist kein sicheres Land und schon die Möglichkeit, dorthin abgeschoben zu werden, bedeutet für viele Geflüchtete ein Trauma, das ihr Leben hier überschattet und Integration erschwert. Eine fehlende „Bleibeperspektive“ dient deutschen Behörden als Begründung für die Verweigerung von Integrationshilfen, gerade gegenüber Geflüchteten aus Afghanistan. Die Menschen, die hierher gekommen sind, zeigen einen sehr großen Integrationswillen. Sie wollen ankommen in dieser Gesellschaft, die Sprache lernen, sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Aber es wird ihnen unnötig schwer gemacht, unter anderem durch die Unterstellung einer fehlenden Bleibeperspektive.

  1. April 2017